Nach welchen Prinzipien sollte der Staat die Verteilung von Gütern gestalten?

Author

David Pomerenke

Published

March 31, 2017

Abstract

In dieser Arbeit wird die Frage besprochen, wie die wichtigen Güter in einem Staat verteilt sein sollten - eine Frage der normativen politischen Philosophie. John Harsanyi (1920-2000) und John Rawls (1921-2002) haben zu dieser Frage zwei sehr ähnliche Theorien entwickelt, kommen aber zu unterschiedlichen Schlüssen. Harsanyi plädiert für eine utilitaristische Regel, Rawls dagegen für eine Regel, die sich auf diejenigen konzentriert, denen es in der Gesellschaft am schlechtesten geht. Die fast fünfzig Jahre andauernde Diskussion zwischen den beiden wird hier systematisch dargestellt. Zuerst wird die Idee der ethischen Güterverteilung erläutert, die bei Rawls Verteilungsgerechtigkeit heißt. Diese Idee hängt eng mit dem hypothetischen Urzustand zusammen, in welchem Entscheiderinnen ohne Ansehen ihrer eigenen Person über die Grundsätze der Gesellschaft entscheiden. Aber auch außerhalb des Urzustandes spielen ganz praktische Erwägungen eine Rolle; unter anderem stellt sich die Frage, wie die Grundsätze in ihrer Anwendung funktionieren. Zuletzt wird auch die Frage gestellt, ob es überhaupt sinnvoll ist, normative Urteile über Güterverteilungen zu treffen.

Die Idee der ethischen Güterverteilung

Die Verteilung von Gütern ist ein Thema, über das oft in der Politik diskutiert wird. Dabei stehen meist praktische Probleme im Vordergrund: Arme oder reiche Bevölkerungs-gruppen sind mit den Steuern unzufrieden, weil sie nicht zu ihrem Vorteil sind; die Wirtschaft droht ins Ausland abzuwandern, weil sie dort weniger Steuern bezahlen muss; oder die Armen scheinen keinen Anreiz zum Arbeiten zu haben, weil ihnen bedingungslose Unterstützung gewährt wird. Während sie diese Aspekte nicht vollkommen außer Acht lassen, wenden sich Rawls und Harsanyi aber einem anderen Thema zu: Dem der ethisch guten Verteilung von Gütern.1 Dabei ist es in erster Linie wichtig, dass bestimmte ethische Grundsätze befolgt werden. Durch die Befolgung dieser Grundsätze entsteht dann nach Meinung der beiden auch ein stabiler Staat, aber das ist nachrangig. Freilich gibt es viele verschiedene Vorstellungen, was eine gute Verteilung von Gütern ausmacht. Aber das Anliegen der beiden ist es, ein allgemein akzeptierbares Kriterium zu entwickeln, welche Verteilungen gut und welche schlecht sind.

  • 1 Ich unterscheide bei Rawls zwischen einer ethischen Konzeption der Verteilungsgerechtigkeit, wie er sie 1971 präsentiert und einer politischen Konzeption, wie er sie 2001 mit einigen Revisionen formuliert (zu dieser Unterscheidung siehe Abschnitt 4.4). Rawls nennt beide diese Konzeptionen politisch.

  • Die Problemstellung ist die folgende: Es sind beliebige fiktive oder reale Staaten gegeben, mit unterschiedlichen Mengen und Verteilungen von Gütern. Durch welches Prinzip kann man jetzt am zuverlässigsten bestimmen, welcher dieser Staaten der “beste” ist?

    Das Nutzenkalkül

    Das Nutzenkalkül kommt aus der Tradition des Utilitarismus, vertreten vor allem von David Hume, Adam Smith, Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgwick. Wie auch in der Ökonomie und Spieltheorie hat jedes Individuum eine persönliche Nutzenfunktion. Bei Bentham repräsentiert diese Funktion die Gefühle der Lust und der Unlust. Bereits Mill trat für eine differenziertere Unterscheidung zwischen Qualitäten der Lust ein, die wiederum Probleme mit sich bringt. Harsanyi vertritt einen Nutzenbegriff, der keinen solchen substantiellen Inhalt hat, und darum diese Probleme umgeht. Er ist somit dem Präferenzutilitarismus zuzuordnen. Der Nutzen wird durch die Befriedigung von Interessen definiert. Die Interessen zeigen sich in den Entscheidungen und Äußerungen der Menschen.2

  • 2 Harsanyi 1955, S. 310; S. 317

  • Für das Problem des Nutzens in einer Gesellschaft gibt es zwei Hauptansätze: Der klassische Utilitarismus geht davon aus, dass die Nutzenwerte aller beteiligten Personen3 addiert werden. Das führt dazu, dass eine Gesellschaft mit vielen Mitgliedern mit mittelmäßigem Nutzen einer Gesellschaft mit weniger Mitgliedern mit hohem Nutzen vorgezogen wird. Weil das gegen intuitive Moralvorstellungen widerspricht, halten Harsanyi und Rawls das Prinzip des durchschnittlichen Nutzens für sinnvoller. Dabei wird die Summe des Nutzens durch die Anzahl der Mitglieder der Gesellschaft geteilt.

  • 3 Peter Singer argumentiert, dass im Rahmen des ethischen Utilitarismus auch Tiere berücksichtigt werden müssen (Peter Singer, 1979. Practical Ethics. Cambridge University Press, Cambridge). Diese Argumentation ist aber sowohl für Rawls’ (vgl. Rawls 1971, S. 17), als auch für Harsanyis Ansatz irrelevant, denn beide begreifen das Nutzenkalkül hier als Werkzeug für politische Entscheidungen innerhalb einer Gesellschaft, nicht als globales ethisches Kriterium. Bei Rawls ist das durch den kontraktualistischen Charakter der Theorie von vornherein klar, aber auch Harsanyi geht implizit von einer kontraktualistischen Grundsituation aus: Eine Gesellschaft verteilt Güter unter ihren Mitgliedern.

  • Ziel der Gesellschaft ist es, diesen durchschnittlichen Nutzenwert zu maximieren. Dabei ist es einerlei, wie der Nutzen unter den einzelnen Personen verteilt ist; es wird also keine gerechte Verteilung der Nutzenwerte angestrebt: Ob zwei Personen den Nutzenwert n haben, oder eine Person den Wert 0 und die andere 2n, wird gleich bewertet. Das ist nicht damit zu verwechseln, dass auch die Verteilung der Güter für die Bewertung irrelevant wäre. Denn der Nutzen der Güter ist nicht notwendig linear. Im Gegenteil, in der Ökonomie wird ein abnehmender Grenznutzen angenommen. Wie solche Güter-Nutzenfunktionen aussehen, bleibt aber durch die rein formale Definition des Nutzenbegriffs zwingend offen, diese Funktionen können sogar je nach Person unterschiedlich sein.4 Über die Verteilung der Güter in der Gesellschaft ist also durch das Nutzenkalkül noch gar nichts ausgesagt.

  • 4 Harsanyi erwägt z. B., ob arme Zocker im Gegensatz zu langjährigen Reichen rationalerweise (dazu kommen irrationale Effekte) einen zunehmenden Grenznutzen haben (Harsanyi 1953, S. 434).

  • Das Differenzprinzip

    Das Differenzprinzip wird von Rawls im Rahmen seiner Theorie der Gerechtigkeit vorgeschlagen. Es ist dort dem Prinzip maximaler Grundfreiheit untergeordnet und lautet:

    Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip).5

  • 5 Rawls 2001 nimmt diese Definition aus Rawls 1971, S. 83 als Grundprinzip auf. S. 60 gibt das Differenzprinzip nicht gut wieder.

  • Das Differenzprinzip fragt immer nach den Personen, die am schlechtesten dastehen, und trifft anhand ihrer Wertungen. Die übrigen Personen werden dabei nicht ganz ausgeblendet. Denn es geht ihnen notwendigerweise besser, ansonsten wären sie ja die am schlechtesten gestellten. Das Differenzprinzip fragt also nach dem Mindestmaß an Gütern, das alle Personen haben. Ist dieses Minimum in den zu vergleichenden Gesellschaften gleich, so werden die Personen betrachtet, die am zweitschlechtesten, drittschlechtesten usw. dastehen. Diese Methode heißt – analog zu alphabetischen Ordnungen – lexikographisches Prinzip.

    Der Maßstab für die Beurteilung sind die sogenannten Primärgüter: Rechte, Freiheiten, Macht, Chancen, Einkommen, Reichtum und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung.6 Die Idee der Primärgüter entstammt der Teleologie der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Primärgüter sind Mittel, die Menschen – egal welches konkrete Lebensziel sie verfolgen – benötigen, um dieses Ziel zu erreichen.7

  • 6 Rawls 1971, S.62

  • 7 Harsanyi führt ein Beispiel an, bei dem es darum geht, ein Medikament gegen Lungenentzündung an einen Patienten mit normaler Lebenserwartung oder an einen Patienten mit Krebs im Endstadium zu vergeben (Harsanyi 1975, S.596). Laut Harsanyi müsste man das Medikament gemäß dem Differenzprinzip an den Krebspatienten geben, weil er schlechter gestellt ist. Dabei übersieht Harsanyi, dass das Differenzprinzip per Definition die Verteilung von Primärgütern behandelt, also von solchen Gütern, die Menschen immer brauchen, egal in welcher Situation sie sind und welche Ziele sie verfolgen. Ein Medikament gegen Lungenentzündung dient einem sehr spezifischen Zweck und ist somit kein Primärgut.

    Ein ähnliches Gegenbeispiel behandelt die Investition in Bildung entweder für solche Personen, denen Bildung viel Nutzen bringt, oder für eine einzige – aus der Gruppe der Benachteiligten – , die davon wegen einer Behinderung nur minimal profitiert (ebenda, S.597). Harsanyi hat sicherlich Recht, dass es keinen Sinn macht, so zu investieren, dass die benachteiligte Person einen größeren Nutzen von der Investition hat als die bildungsaffinen Personen; denn das würde riesige Mengen an Geld verschlingen, die für die Bildung der anderen fehlen würden. Hier geht Harsanyi von der Anwendung der Maximinregel über Nutzenwerten aus. Tatsächlich ist es aber eine Regel über Mengen an Primärgütern. Bildung ist in diesem Fall kein Primärgut, Einkommen aber z. B. schon. Und es scheint weit weniger unplausibel, für die benachteiligte Person mehr Geld auszugeben, als für eine der nicht benachteiligten Personen. Im Vergleich zu anderen Personen mehr Geld zu haben, bedeutet in diesem Beispiel nicht, im Vergleich auch mehr Nutzen zu haben.

    Leider stellt Rawls dieses Missverständnis nicht deutlich genug klar, sondern führt eine Trennung mikroethischer und makroethischer Prinzipien ein (1974, S.142). Diese Unterscheidung wiederum wird von Harsanyi bloßgestellt (Harsanyi 1975, S.605). Es stellt sich heraus, dass die Unterscheidung sich nicht auf die Gruppengröße bezog, sondern vielmehr darauf, dass sie sich nicht mit der Verteilung von Primärgütern beschäftigen (Rawls 1974, S.142, Fußnote 5), sondern eine sehr spezifische Rolle erfüllen (Rawls 1993, S.261, Fußnote 5; S. 262).

  • Außerdem wollen Menschen per Definition lieber mehr Primärgüter, als weniger. Die Menge an Primärgütern, die eine Person hat, wird durch ihren Primärgüterindex angegeben. Rawls geht davon aus, dass es durchaus möglich ist, diesen zu berechnen, hat aber keine konkrete Formel dafür definiert.8

  • 8 Rawls 1971, S. 93ff.

  • Auch beim Differenzprinzip wird die Frage der Verteilung nicht direkt thematisiert.9 Es geht um die maximale Menge von Primärgütern, nicht um die Verteilung dieser Güter. Aber dadurch, dass hierzu die am meisten benachteiligte Person hinzugezogen wird, werden die benachteiligten Gruppen letztlich viel mehr berücksichtigt, als wenn die relative Verteilung betrachtet würde; es zählt so nur der absolute Vorteil der Verteilung für die Schwächsten.

  • 9 Ein in der Politik oft angewandtes Beispiel für ein Prinzip, das einzig die Verteilung bewertet und dabei absolute Werte ignoriert, ist der Gini-Koeffizient (Corrado Gini, 1912. Variabilità e mutabilità. In: Pizetti [Hg.], 1955. Memorie di metodologica statistica. Rom, Libreria Eredi Virgilio Veschi).

  • Ethische Wertungen als unparteiliche Überlegungen

    Rawls und Harsanyi wollen die Güter in der Gesellschaft nicht so verteilen, wie es unter den jeweiligen Machtverhältnissen eben passiert. Stattdessen streben sie eine ethische Verteilung an. Diese ethische Verteilung wird ihrer Meinung nach von allen Menschen akzeptiert werden, wenn sie lange genug darüber nachdenken.10 Da die ethische Verteilung von allen akzeptiert werden soll, kann sie nicht von den Vorlieben einzelner Personen abhängen. Denn diese können unterschiedlich sein, insbesondere je nachdem, welche Position sie in der Gesellschaft innehaben. Ethische Wertungen, darunter der Begriff der Gerechtigkeit, müssen deshalb von vernünftigen Personen getroffen werden, die ihre eigenen Vorlieben ausblenden.11 Die ethischen Präferenzen der Menschen sind von den persönlichen Präferenzen völlig losgelöst.

  • 10 Rawls 1971, S.20

  • 11 Harsanyi 1953, S.434; Rawls 1951, S.180

  • Harsanyi und Rawls stellen jeweils Bedingungen für ethische Präferenzen auf, von denen sie davon ausgehen, dass sie allgemein akzeptiert werden können. Ausgehend von diesen Bedingungen wird dann erörtert, welches der beiden Prinzipien für ethische Wertungen am besten geeignet ist. Diese Bedingungen bilden zusammen den Urzustand.

    Der Urzustand

    Der Urzustand ist ein hypothetisches Gedankenexperiment. In ihm haben die Entscheiderinnen keine Informationen über ihren Platz in der Gesellschaft, ihre soziale Klasse und ihren sozialen Status, ihren Anteil an Talenten und Fähigkeiten, ihre Intelligenz, ihre Stärke, ihre Konzepte des Guten und ihre psychologischen Neigungen.12 Diese Eigenschaft wird als Schleier des Nichtwissens13 oder komplettes Nichtwissen14 bezeichnet. Im Urzustand haben also alle Menschen absolut gleiche Eigenschaften; die Gegebenheiten der unheilen Welt sind ausgemerzt. Weil die Gerechtigkeit bei Rawls durch diesen Zustand bestimmt wird, bezeichnet er sie als Gerechtigkeit als Fairness.

  • 12 Rawls 1971, S.12

  • 13 ebenda

  • 14 Harsanyi 1953, S.435

  • Güterverteilung als entscheidungstheoretisches Problem

    Im Urzustand ist die ethische Güterverteilung kein abstraktes Problem mehr, sondern eine konkrete entscheidungstheoretische Situation. Somit ist eine Brücke von der Wohlfahrtsökonomik bzw. Gerechtigkeitstheorie zur Entscheidungstheorie geschlagen.15 Das Entscheidungsproblem kann jetzt von zweckrationalen, egoistischen Personen angegangen werden. Wie diese entscheiden sollten, dafür gibt es aus der Entscheidungstheorie bereits entsprechendes Rüstzeug, nur dessen Anwendung ist nicht ganz klar.

  • 15 Harsanyi hat diese Entdeckung als erster in Harsanyi 1953 formuliert.

  • Entscheidungen unter Risiko und Entscheidungen unter Ungewissheit

    In der Entscheidungstheorie gibt es zwei grundsätzliche Arten von Entscheidungen: Bei Entscheidungen unter Risiko sind die Ergebnisse der verschiedenen Alternativen (also die Nutzenwerte oder der Primärgüterindex der einzelnen Personen), wie auch die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Alternativen bekannt. Bei Entscheidungen unter Ungewissheit sind zwar die Ergebnisse der Alternativen bekannt, nicht aber deren Wahrscheinlichkeiten.

    Über das Entscheidungsverfahren unter Risiko herrscht unter den beiden Einigkeit:16 In diesem Fall wird zu jeder Alternative, die zur Wahl steht, die Summe der Produkte von den Werten der möglichen Ereignisse und deren Wahrscheinlichkeit gebildet: \(w = \sum a_{i}u_{i}\). Die so gewonnen Summen der verschiedenen Alternativen werden dann verglichen und die mit dem höchsten Wert gewählt. Diese Methode würde zur Anwendung kommen, wenn die Entscheiderinnen sicher wüssten, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie welche Position einnehmen müssten, z. B. wenn sie wüssten, dass alle Positionen gleich wahrscheinlich sind. Dies ist aber per Annahme nicht gegeben; denn der Schleier des Nichtwissens besagt nur Nichtwissen, nicht aber gleiche Wahrscheinlichkeiten.

  • 16 Rawls 1971, S.168f.; Rawls 2001, S.97; Harsanyi verkennt diese Einmütigkeit, und führt in Harsanyi 1975, S.595 die Verwendung von Maximin für Entscheidungen unter Risiko ad absurdum. Noch in Harsanyi, 1996, S.72 unterstellt er Rawls zu Unrecht, Maximin bei Alltagsentscheidungen unter Risiko anwenden zu wollen.

  • Für das Entscheidungsverfahren unter Ungewissheit existieren zwei unterschiedliche Konzepte: Die Maximin-Regel und die Erwartungsnutzenmaximierung. Erstere wird von Rawls vorgeschlagen,17 letztere unter Berufung auf die bayessche Schule von Harsanyi.18

  • 17 Rawls 1971, S.152. Rawls illustriert die Regel auf S.153 an einem Beispiel, bei dem die Erwartungsnutzenmaximierung die gleiche Entscheidung wie die Maximin-Regel wählt (Sei W der erwartete Geldwert: $W(d1) = 1300$; $W(d2) = 1300$; $W(d3) = 1900$. Führt man einen Vergleich der Erwartungsnutzenmaximierung durch und rechnet dabei mit einem abnehmenden Grenznutzen, so wird d3 bei der Erwartungsnutzenmaximierung sogar noch stärker favorisiert.) Dies erscheint verwirrend, hat aber den Grund, dass Rawls tatsächlich von ähnlichen Konsequenzen beider Regeln ausgeht, siehe Abschnitt 4.3.

  • 18 Harsanyi 1973, S.594

  • Die Maximin-Regel hat eine starke formale Analogie zum Differenzprinzip.19 Sie besagt, dass für alle Alternativen, zwischen denen man wählen kann, stets der schlechtest mögliche Wert betrachtet wird: \(w = \min u_{i}\). Diese Werte werden dann für den Vergleich herangezogen, gewählt wird die Alternative mit dem höchsten \(w\). Die Alternativen sind hier verschiedene Gesellschaften, die möglichen Ereignisse sind die möglichen Positionen \(i = 1, ..., n\) in der Gesellschaft und die Werte sind die Primärgüterindizes der Personen, die diese jeweils haben. Wenn man im Urzustand also die Maximin-Regel als Entscheidungsregel benutzt, so erhält man exakt das Differenzprinzip.

  • 19 Wegen der formalen Ähnlichkeit wird die Maximin-Regel oft mit dem Differenzprinzip identifiziert, stellenweise auch bei Rawls. In Rawls 1971 ist das nicht der Fall. Da es auch Gründe für das Differenzprinzip gibt, die nicht von der entscheidungstheoretischen Maximin-Regel zusammenhängen, werden die beiden Begriffe hier auseinandergehalten.

  • Harsanyi befürwortet dagegen die Erwartungsnutzenmaximierung. Er geht davon aus, dass im Urzustand Wahrscheinlichkeiten bekannt sind: Nämlich, dass die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Person zu sein, bei \(n\) Mitgliedern der Gesellschaft genau \(\frac{1}{n}\) beträgt. Diese Annahme bezeichnet er als die Gleichwahrscheinlichkeitsannahme. Der Erwartungsnutzen beträgt also \(w = \sum_{i=1}^{n} \frac{1}{n} \cdot u_{i}\),20 was genau dem Prinzip des Durchschnittsnutzens entspricht.21

  • 20 In 1955, S.314 benutzt Harsanyi noch einen persönlichen Koeffizienten \(a_i\). Dieser ist gegeben, weil Nutzenwerte bei ihm eindeutig bis auf positiv-monotone Transformationen sind. Wenn interpersonelle Vergleiche möglich sind – andernsfalls werden die Nutzenwerte willkürlich und aussagelos –, dann kann man diesen Koeffizienten weglassen (Harsanyi 1955, S.316).

  • 21 Harsanyi führt das Prinzip des Durchschnittsnutzens sehr detailliert auf einige Rationalitätsannahmen zurück, darunter die Pareto-Bedingung, die mit Rawls’ Urzustand vollkommen kompatibel scheinen. Er geht zunächst von individualistischen ethischen Präferenzen aus und begründet dann mit Hilfe dieser relativ schwachen Annahmen, dass die ethischen Präferenzen verschiedener Personen, sofern sie diese Annahmen akzeptieren, alle gleich sein müssen: Dass sie nämlich auf die Durchschnittsnutzenmaximierung abzielen (Harsanyi 1955, S. 309-314).

  • Subjektive Wahrscheinlichkeiten

    Beide Philosophen stimmen Laplace zu, dass es rational ist, wenn man Wahrscheinlichkeiten benutzen möchte, diese aber nicht kennt, dann die Gleichwahrscheinlichkeit aller Möglichkeiten anzunehmen, also eine symmetrische Verteilung der Wahrscheinlichkeiten.22 Rawls beharrt jedoch darauf, dass die Entscheiderinnen keine Entscheidungen benutzen können.

  • 22 Harsanyi 1975, S.598

  • Harsanyi verweist hier auf die bayessche Idee der subjektiven Wahrscheinlichkeiten. Demnach benutzen rationale Menschen auch dann Wahrscheinlichkeiten, wenn keine objektiven Wahrscheinlichkeiten gegeben sind. Will ein Mensch beispielsweise an einer Wette teilnehmen, deren Wahrscheinlichkeiten er nicht kennt, die aber in jedem Fall vorteilhaft für ihn ist, so muss er sich für eine Seite entscheiden, auf die er wettet, und weist dieser somit eine mindestens gleich hohe Wahrscheinlichkeit zu, wie der anderen Seite. Diese Wahrscheinlichkeit wird subjektiv genannt. Aufgrund mangelnder objektiver Wahrscheinlichkeiten auf gar keine Seite zu wetten, ist laut Harsanyi nicht rational. Im Gegenteil: Es würde beiden Seiten der Wette eine verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit zuweisen. In gleicher Weise unterstellt Harsanyi Rawls, dass er in Wirklichkeit subjektive Wahrscheinlichkeiten benutzt: Dass er nämlich der Wahrscheinlichkeit, das am schlechtesten gestellte Individuum zu sein, tatsächlich eine subjektive Wahrscheinlichkeit von \(1\) oder nahe \(1\) zuweist – während laut Harsanyi tatsächlich in solchen Situationen vernünftigerweise die Gleichwahrscheinlichkeitsannahme gilt.23

  • 23 Harsanyi 1975, S.596. Die Zuweisung der Wahrscheinlichkeit \(1\) scheint im Lichte einer kontraktualistischen Konzeption sogar äußerst sinnvoll. Denn im Kontraktualismus ist es wichtig, dass jede Person dem “Vertrag” zustimmt (vgl. Rawls 1975, S.144). Dies ist gegeben, wenn die am schlechtesten gestellte Person zustimmt, also macht es – um die Zustimmung aller sicherzustellen, nicht unbedingt darüber hinaus – in diesem Zusammenhang Sinn, diese Person zu betrachten. Für ein ähnliches Argument siehe Abschnitt 4.2.

  • Rawls dagegen lehnt eine bayessche Deutung von Wahrscheinlichkeiten ab.24 Er hält es für schwierig, eine Entscheidung gegenüber anderen Menschen, vor allem den eigenen Nachkommen zu rechtfertigen, die durch ein so unsicheres Prinzip begründet wird. Dabei verweist er auf Argumente außerhalb des Urzustandes.25

  • 24 Rawls 2001, S.161

  • 25 Rawls 1971, S.172f.; siehe Abschnitt 4.2.

  • Stochastische Regeln und endgültige Entscheidungen

    Wird das Prinzip der Erwartungsnutzenmaximierung eingesetzt, so heißt das nicht, dass für alle Personen früher oder später der höchste Nutzen erzielt wird; diesen Anspruch hat das Prinzip nicht, es gibt auch kein Prinzip, das ihn erfüllen könnte. Der Anspruch des Prinzips ist es aber, bei mehrmaliger Wiederholung insgesamt den höchsten Nutzen zu erzielen. Wenn ein Mensch dieselbe Entscheidung sehr oft wiederholt, und den Nutzen aller Ergebnisse summiert, dann wird in diesem Fall die Erwartungsnutzenmaximierung den höchsten Nutzen erzielen. Harsanyi macht an keiner Stelle deutlich, warum dieses Prinzip auch auf die Entscheidung im Urzustand angewandt werden kann.

    Edgeworth hat hier hingegen einen Erklärungsversuch anzubieten, auf den Rawls eingeht.26 Gemäß Edgeworth ist das utilitaristische Prinzip im politischen Tagesgeschäft automatisch auch ein faires. Denn eine nach utilitaristischen Maßstäben gefällte Entscheidung bringt immer den größten Gesamtnutzen hervor. Und dieser Nutzen trifft nach Edgeworth früher oder später jeden, weil utilitaristische Entscheidungen niemanden a priori bevorzugen. Es ist vielmehr ein ausgeglichener Zufall, zu wessen Gunsten eine utilitaristische Entscheidung ausfällt. Auf diese Weise profitieren alle am meisten.

  • 26 Rawls 1971, 170f.

  • Dieser ausgleichende Zufall, so Rawls, ist nicht gegeben. Politische Entscheidungen können eine langfristige Auswirkung haben, die bestimmte Bevölkerungsgruppen zugunsten des Gesamtwohls diskriminiert. Je langfristiger eine Entscheidung getroffen wird, desto ungleicher sind die Chancen. Das utilitaristische Prinzip hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, unterdrückerisch zu sein. Während diese sich bei Kleinstentscheidungen im tagespolitischen Geschäft noch ausgleichen mögen, so tun sie es bei einmaligen Entscheidungen nicht. Und im Urzustand findet eine einzige, endgültige Entscheidung statt, welche Gesellschaft gut ist. Jede Person hat die gleiche Chance, benachteiligt zu werden. Aber wird eine Person einmal benachteiligt, so kann es sein, dass sie ihr Leben lang benachteiligt wird. Die Person könnte vom Durchschnittsnutzen nur nutznießen, wenn sie etwa mehrere Leben hätte; oder wenn die Positionen in der Gesellschaft regelmäßig rotieren würden – und auch dann wären sie womöglich einem ständigen Wechsel von extrem hohem und niedrigem Nutzen unterworfen. Im Angesicht der Bedeutung und Endgültigkeit der Entscheidung im Urzustand ist deshalb laut Rawls ein schadensbegrenzendes und daher risikoscheues Prinzip27 am besten geeignet, und ein solches ist die Maximin-Regel mit dem resultierenden Differenzprinzip.

  • 27 In Rawls 1971, S.172 wird darauf hingewiesen, dass die Einstellung zu Risiken eine menschliche Eigenschaft ist, die bei verschiedenen Personen unterschiedlich sein kann, und deshalb im Schleier des Nichtwissens unbekannt ist. In Rawls 1974, S.143 sind die Menschen im Urzustand jedoch sicherlich in sehr beträchtlicher Weise abgeneigt gegenüber Risiken. Sie sind also nicht aus psychologischen, sondern aus rationalen Gründen risikoscheu.

  • Die Anwendung der Prinzipien

    Auch wenn die Idee des Urzustandes laut Rawls und Harsanyi bereits zur Rechtfertigung genügen würde, so legen beide zusätzlich einen externen Maßstab an. Es geht darum, wie die beiden vorgeschlagenen Verteilungsprinzipien überhaupt angewendet werden können, wie sie gegenüber anderen Menschen gerechtfertigt werden können, und welche praktischen Konsequenzen sich überhaupt aus ihnen ergeben könnten. Diese externen Argumente werden umso wichtiger, je unklarer die Lage im Urzustand ist. Vor allem Rawls bezieht externe Argumente in seine Beurteilung des Urzustandes ein, was argumentationstechnisch nicht unproblematisch ist; schließlich stellt er damit infrage, dass der Urzustand als unabhängiges ethisches Kriterium benutzt werden kann.28

  • 28 In 1971, S.30 erklärt Rawls, dass seine Theorie zwar deontologisch ist, aber nicht in dem Sinn, dass sie die Konsequenzen für den Nutzen (das Gute) ausblendet, sondern nur in dem Sinn, dass sie ihn nicht einfach maximiert. Daher macht es Sinn, auch einen externen Maßstab anzulegen.

  • Das Problem interpersoneller Vergleichbarkeit

    Eine technische Voraussetzung für die Anwendung des Durchschnittsnutzenprinzips ist, dass die Nutzenwerte aller Personen bekannt sind. Für die Bewertung zweier Gesellschaften muss der Nutzen jeder einzelnen Person in beiden Gesellschaften mit einem exakten Zahlenwert angegeben werden, um zu ermitteln, welche Gesellschaft “besser” ist. Rawls glaubt nicht, dass solche exakten Nutzenvergleiche zwischen Menschen möglich sind. Somit wäre es unmöglich, das Prinzip des Durchschnittsnutzens überhaupt anzuwenden.

    Rawls Theorie ist von den Problemen interpersoneller Vergleichbarkeit in geringerem Ausmaß betroffen. Für die Umsetzung seines Differenzprinzips sind zwei Schritte nötig: Erstens muss in den Gesellschaften, die zu vergleichen sind, jeweils die relativ am schlechtesten dastehende Person bzw. Gruppe ermittelt werden. Zweitens muss dann herausgefunden werden, in welcher Gesellschaft die jeweilige Person oder Gruppe relativ besser dasteht. Diese Gesellschaft ist dann die “bessere”. Als Maßstab für diese Vergleiche dient nicht der Nutzen, sondern der Primärgüterindex der Personen. Rawls gibt zwar keine Formel zur Berechnung dieses Indexes an, aber es ist vorstellbar, dass es ein solcher Index, wenn man sich auf eine Formel für den Index geeinigt hat, mithilfe objektiv messbarer Kriterien wie z. B. des Einkommens gemessen werden kann.

    Rawls’ Theorie macht hier in zweifacher Weise sparsamere Annahmen als die von Harsanyi: Erstens müssen keine absoluten Nutzenwerte für alle Menschen berechnet werden, sondern es genügt ein einfacher relativer Vergleich, wer besser dasteht; es wird mit anderen Worten keine kardinale, sondern nur ordinale Vergleichbarkeit gefordert. Zweitens ist der Maßstab ein anderer, nämlich der Primärgüterindex statt des Nutzenwertes. Damit reagiert Rawls auf das Problem, dass verschiedene Personen ganz unterschiedliche Konzeptionen vom Guten haben und unter objektiv gleichen Umständen unterschiedliche Nutzenwerte haben können, weil sie die Umstände anders bewerten. Die Idee der Primärgüter bei Rawls ist, dass diese von allen Menschen begehrt werden, was auch immer ihre Konzeption vom Guten ist.

    Metaphysische Schwierigkeiten

    Harsanyi verteidigt die Möglichkeit interpersoneller Vergleiche entschieden.29 Er diagnostiziert ein metaphysisches und ein psychologisches Problem. Das metaphysische betrifft die Frage, ob man überhaupt im Idealfall – nämlich, wenn zwei Personen exakt dieselben Interessen haben und gleich auf jedwede Situation reagieren – ob man überhaupt in diesem Idealfall davon ausgehen kann, dass sie auch denselben Nutzen erfahren. Denn es könnte ja schlicht sein, dass sie eine unterschiedliche “Anfälligkeit” für Nutzen haben; soll heißen, dass eine in derselben Situation bei der Befriedigung desselben Interesses empfindlicher reagiert und zufriedener ist als eine andere.30 Harsanyi gibt zu, dass diese Behauptung zwar nicht falsifizierbar ist. Aber es gibt auch keinerlei Grund, diese Behauptung zu treffen, denn es können ja keine Unterschiede beobachtet werden – warum also unnötigerweise welche annehmen? So führt Harsanyi die metaphysische Möglichkeit interpersoneller Vergleiche auf das Prinzip der unberechtigten Unterscheidung zurück: Wenn man keinen Beleg hat, dass zwei Dinge verschieden sind, muss man davon ausgehen, dass sie gleich sind. Ohne dieses Prinzip kann man auch nicht darauf schließen, dass andere Menschen eine ähnliche mentale Verfassung haben, wie man selbst. Man müsste somit, so Harsanyi, wenn man die metaphysische Möglichkeit interpersoneller Vergleiche leugnet, zugleich für den Solipsismus argumentieren. Und eine Argumentation für den Solipsismus ist zwar theoretisch möglich, aber wird bei anderen Menschen kaum auf Verständnis stoßen.

  • 29 Harsanyi 1955, S.317ff.; Harsanyi redet hier über Zufriedenheit. Da er den Präferenzutilitarismus befürwortet, ist Zufriedenheit als Befriedigung von Interessen zu verstehen, nicht etwa im Sinne des hedonistischen Kalküls, denn das wäre eine substantielle Annahme über den Inhalt des Nutzens. Dieser ist aber formal und individualistisch aufzufassen, ähnlich wie bei Rawls.

  • 30 Es kann bezweifelt werden, ob dieses Argument den Präferenzutilitarismus überhaupt trifft. Das interessiert hier aber Harsanyi nicht, denn er hat ja ein schönes Gegenargument.

  • Psychologische Schwierigkeiten

    Das psychologische Problem betrifft die Frage, ob man die Nutzenwerte, die anderen Personen zukommen, denn auch erkennen kann. Harsanyi führt hier zunächst die Beobachtung an, dass Menschen im Alltag de facto interpersonelle Vergleiche vornehmen. Damit ist freilich noch nicht viel ausgesagt, denn wie Rawls bemerkt, sind diese alltäglichen Vergleiche oft fehlerhaft.31 Es wird in ihnen nämlich zwar die Situation anderer Menschen bewertet, aber allzu oft unter dem Beurteilungsmaßstab der eigenen Situation. Solche Vergleiche sind für das hier vorliegende Problem wenig sinnvoll, schließlich kann nicht der Beurteilungsmaßstab einer einzelnen für die Bewertung des gesamtgesellschaftlichen Nutzens benutzt werden.

  • 31 Rawls 1971, S.174

  • Harsanyi macht aber Vorschläge, wie solche Vergleiche auch sinnvoll möglich sind. Der Nutzen, den ein Mensch in einer Situation erfährt, hängt von veränderlichen und unveränderlichen Variablen ab, die zusammen seine im weitesten Sinne psychologische Situation ausmachen. Bei den veränderlichen Variablen ist es möglich, dass eine Person eine Veränderung durchlebt hat. Sie hat z. B. erst ein niedriges Einkommen gehabt und hat jetzt ein hohes, hat zuerst mehr Kraft gehabt und ist jetzt schwächer, ist zuerst in ein soziales Umfeld eingebettet gewesen und ist jetzt Teil eines anderen Umfeldes. Dann kann sie einen angemessenen Vergleich vornehmen, wie der Nutzen zweier Personen ist, von denen eine in der psychologischen Situation ist, in der sie selbst früher gewesen ist, und von denen die andere in der psychologischen Situation ist, in der sie selbst jetzt ist. Außerdem kann man psychologische Regeln anwenden, um Rückschlüsse auf den Nutzen von Personen zu ziehen. So kann man z. B. den bis auf Ausnahmen unveränderlichen Geschlechterunterschied als eine Neigung zu bestimmten veränderlichen Variablen auffassen, die dann wiederum Vergleiche zulassen. Harsanyi gibt die Beschränktheit dieser Methoden zu, glaubt aber, dass es generell möglich ist, sinnvolle interpersonelle Vergleiche durchzuführen.

    Das Rechtfertigungsproblem

    Eine sehr praktische Voraussetzung für beide Theorien ist, dass sie außerhalb des Urzustandes auch akzeptiert werden müssen. Denn der Urzustand ist nur hypothetisch, keiner kann darauf hingewiesen werden, dass er im Urzustand tatsächlich einmal unterschrieben hat, dass er sich irgendwelchen Gerechtigkeitsprinzipien unterwirft. Deshalb ist der Urzustand so angelegt, dass alle rationalen Menschen laut Rawls und Harsanyi akzeptieren, sich in ihn zu begeben, um die Gerechtigkeitsprinzipien festzulegen; beide legen großen Wert darauf, möglichst wenige substantielle Bedingungen für den Urzustand aufzustellen. Die Idee des Urzustands ist aber dennoch bei beiden, dass er ein ethisches Kriterium ist, das losgelöst von allen persönlichen Interessen funktioniert. Somit wird keiner, der sich im Urzustand befindet, diskriminiert. Es herrscht hier absolute Fairness, durch Gleichwahrscheinlichkeit oder komplettes Nichtwissen. Während es rational sein mag oder auch nicht, in diesem Zustand auf eine gute Position zu hoffen und dafür die geringe Wahrscheinlichkeit einer schlechten Position in Kauf zu nehmen – außerhalb des Urzustandes verliert dieses Abwägen jede Bedeutung, denn hier sind die Positionen zugewiesen; und zwar nicht so, dass jeder eine durchschnittliche Position inne hat, sondern dass jeden mit vollkommener Sicherheit eine vollkommen zufällige, willkürliche Position trifft. Das Spiel der Gesellschaft hatte nie eine faire Ausgangssituation.32

  • 32 Harsanyi 1953, S.435

  • Rawls stellt deshalb fest, dass der Urzustand, ganz abgesehen davon, ob er ein ethisch korrektes Kriterium ist, auch akzeptiert werden muss, ansonsten ist seine Idee wertlos. Deshalb muss ein Kriterium für die Gerechtigkeitsprinzipien die faktische Akzeptanz durch jeden Menschen sein, unter Berücksichtigung seiner eigenen Interessen.

    Insbesondere findet Rawls es problematisch, eine Entscheidung gegenüber Menschen zu rechtfertigen, die von dieser negativ betroffen sind. Er bringt das Beispiel einer Sklavenhalterin, die gegenüber ihren Sklavinnen erklärt, das Prinzip der Sklaverei sei durch die Urposition gerechtfertigt und die Sklavinnen würden ihm deshalb in ihrem eigenen ethischen Interesse als rationale Menschen selbst zustimmen. Diese Art der Begründung wäre laut Rawls Konzeption des Urzustandes korrekt, und die Sklavinnen würden ihm zufolge tatsächlich einsehen müssen, dass die Sklaverei gerecht ist.33

  • 33 Rawls 1971, S.167

  • Um derlei unangenehme Situationen zu vermeiden, plädiert Rawls dafür, dass der Urzustand die Unterdückung von Menschen nicht rechtfertigen darf. Das Prinzip des Durchschnittsnutzens lässt Unterdrückung zu, insofern sie zum Durchschnittsnutzen beiträgt. Das Differenzprinzip dagegen bewertet Unterdrückung stets schlecht, weil dann die schlechtestgestellten besonders schlecht dastehen. Es lässt allerdings die Unterdrückung von Menschen zu, die eine gute Position bekleiden. Denn wenn es für die Ärmsten besser ist, wenn die Reicheren ihnen ein paar Primärgüter abgeben, dann ist das laut dem Differenzprinzip auch für die Gesellschaft besser. Eine Unterdrückung der Reicheren ist aber laut Rawls einfacher durchzusetzen als eine Unterdrückung der Ärmeren, weil unterdrückte Reiche immer noch besser dastehen als unterdrückte Arme, und somit eher bereit sind, die Unterdrückung zu akzeptieren.34

  • 34 Rawls 1974, S.144. Rawls bezieht dieses Argument in seine Argumentation gegen die Gleichwahrscheinlichkeitsannahme im Urzustand mit ein. Dieses Vorgehen ist sicherlich unsauber und ein Argument gegen die Idee des Urzustands.

  • Rawls zitiert und ersinnt zahlreiche weitere – durchaus überzeugende – Argumente gegen den Durchschnitts- und klassischen Utilitarismus als solche. Er geht dabei nur auf deren Konsequenzen außerhalb des Urzustandes ein, und nicht darauf, wie die Sicht aus dem Urzustand heraus aussehen würde.35

  • 35 Rawls 1971, S.167-175; 183-192

  • Ein weiterer Punkt, der bei der Rechtfertigung des Differenzprinzips hilft, ist dessen Transparenz.36 Während es schwierig ist, sich einen Eindruck von der Entwicklung des Durchschnittsnutzens in der Gesellschaft zu machen – denn dazu müssen die Nutzenwerte aller Personen miteinbezogen werden – ist es vergleichsweise einfach und deshalb auch für jeden nachvollziehbar, den schlechtestgestellten auszumachen und die Entwicklung seines Primärgüterindexes zu verfolgen. Auch ist das zugrundeliegende Prinzip laut Rawls einfacher zu verstehen als das des Durchschnittsnutzens, weil es eine gewisse Schärfe hat. All dies sind freilich zu vernachlässigende Punkte, wenn es um korrekte ethische Wertungen geht.

  • 36 Rawls 1974, S.143f.

  • Zur Kompatibilität der Prinzipien

    Trotz aller theoretischen Argumente, die im Allgemeinen für und wider die beiden Theorien als abstrakte Prinzipien geltend zu machen sind, stellt sich die Frage, ob der Durchschnittsutilitarismus nicht in allen wesentlichen Auswirkungen identisch oder zumindest sehr ähnlich zum Differenzprinzip ist. So sehr die beiden Philosophen über ihre Theorien streiten, so gehen sie tatsächlich beide davon aus, dass die Auswirkungen über weite Bereiche hinweg dieselben sind.37

  • 37 Rawls 1971, S.159; Rawls 1974, S.143; Harsanyi 1975, S.595, 597f.; Harsanyi stellt fest, dass die Theorien in einigen Situationen übereinstimmen, in anderen hingegen nicht. Harsanyis Beispiele, in denen die Theorien vermeintlich nicht übereinstimmen, sind dabeifehlerhaft, siehe Fußnoten 7 und 16.

  • Das ist darauf zurückzuführen, dass die Theorien sich in gleich zwei wichtigen Aspekten unterscheiden, nämlich erstens in der Art der Entscheidungsregel und zweitens in dem Gegenstand, auf den diese Regel angewandt wird: Harsanyi benutzt das Durchschnittsprinzip über Nutzenwerten, Rawls das Differenzprinzip über Primärgütern. Dass die beiden Theorien also überhaupt verglichen werden können, liegt daran, dass es einen Zusammenhang zwischen Primärgütern und Nutzenwerten gibt. Per Definition ist nichts weiter über diesen Zusammenhang ausgesagt, als dass er positiv ist: Mehr Primärgüter bedeuten mehr Nutzen und vice versa. Wenn man nun Differenz- und Durchschnittsprinzip direkt vergleicht, ohne ihren verschiedenen Gegenständen Rechnung zu tragen – wie es leider in der Argumentation an vielen Stellen passiert –, so geht man implizit davon aus, dass Primärgüter und Nutzenwerte mindestens einen linearen Zusammenhang haben, wenn nicht gar identisch sind. Wie auch immer eine Nutzenfunktion aussieht – das ist ja nicht definiert –, es gibt keinerlei Grund, einen linearen Zusammenhang mit Primärgütern anzunehmen.

    Stattdessen wird in der Ökonomik üblicherweise das Prinzip des abnehmenden Grenznutzens angenommen: Der erste Euro, den ein Mensch besitzt, ist für ihn wesentlich nützlicher als der hunderttausendste; eine Gehaltserhöhung um 10 im Monat nützt einem Arbeiter mehr als einem Manager. Berechnet man diesen Grenznutzen, egal wie stark er ist, und geht ferner idealisierenderweise davon aus, dass Einkommen für alle Personen gleich nützlich ist, dann ist das Resultat: Die beste Gesellschaft ist die, in der das Einkommen gleich verteilt ist. Denn wenn man aus diesem Zustand einer Person eine Einheit Einkommen wegnimmt und sie einer anderen aufschlägt, so hat die Einheit Einkommen für die zweite Person einen geringeren Nutzen als für die erste. Die Gleichverteilung ist dann die einzige pareto-optimale Verteilung.

    Nun wurde hier aber eine Idealisierung vorgenommen, die vielleicht nicht zutrifft: Dass Einkommen für alle Personen gleich nützlich ist. Sobald es für eine Person nicht ganz so nützlich ist, heißt das aber nicht, dass ihr Einkommen völlig unter den anderen verteilt werden sollte; wegen des abnehmenden Grenznutzens ist Einkommen für sie bis zu einem gewissen Niveau immer noch gleich nützlich, wie für die anderen; also sollte sie nur etwas weniger bekommen, nicht aber gar nichts. Geht man von einem maximal abnehmenden Grenznutzen aus, so wäre jeder Cent der Reichen auch bei verschiedener persönlicher Nützlichkeit von Einkommen besser bei den Armen angelegt. Ähnliches kann man wahrscheinlich auch über andere Primärgüter aussagen. Es besteht dann eine große Ähnlichkeit zum Differenzprinzip. Rawls hat diesen Zusammenhang gesehen, ihn aber leider nicht weiter ausgeführt.38

  • 38 Rawls 1971, S.159; die beiden Annahmen von Grenznutzen und gleicher Nützlichkeit der Primärgüter für alle bezeichnet Rawls als utilitaristische Standardannahmen. Er bringt diesen Punkt nicht gegen Harsanyi, auch wenn er ein sehr naheliegender ist. Wer möchte schon gern sein eigenes Konzept in das des “Gegners” einbetten?

  • Einen formal ähnlichen Punkt nimmt Rawls unter Bezugnahme auf Arrow zur Kenntnis.39 Wenn man im Urzustand das Durchschnittsnutzenprinzip wählt und die Abneigung gegen Risiko miteinberechnet40, so nähert sich das Durchschnittsnutzenprinzip der Maximin-Regel an, je höher die Abneigung gegen Risiko ist.

  • 39 Rawls 1974, S.143

  • 40 Diese Abneigung kann durchaus rational sein, siehe Abschnitt 3.1.3.

  • Rawls kritisiert an einer utilitaristischen Begründung des Differenzprinzips, dass diese von anthropologischen Fakten abhängt, die allein durch das Prinzip des Durchschnittsnutzens noch nicht gegeben sind, also außerhalb der Theorie liegen.41 Das Differenzprinzip braucht dagegen auf solche unsicheren Fakten nicht zurückgreifen. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Durchschnittsnutzen und Differenzprinzip bleibt aber auf jeden Fall die absolute Priorität der schlechtest gestellten. Solche absolute Priorität wird im Utilitarismus nur durch sehr stark abnehmende Grenznutzenfunktionen oder sehr hohe Abneigung gegen Risiko erreicht; ansonsten haben die schlechtest gestellten nur relative Priorität.

  • 41 Rawls 1971, S. 159

  • Zur Relevanz dieser Überlegungen

    Welches Prinzip auch immer man nun nach all diesen Überlegungen auswählt, es stellt sich die Frage, wie und ob es überhaupt angewandt werden kann.

    Das “wie” kann nur mit einem “schwierig” beantwortet werden. Man stelle sich eine Gesellschaft vor, die nach dem Maßstab des gewählten Kriteriums ungerecht ist und jetzt gerechter werden will. Es ist keineswegs klar, dass jetzt einfach Primärgüter oder Nutzen umverteilt werden sollte. Denn das könnte falsche Anreize schaffen, sodass der Durchschnittsnutzen oder der Primärgüterindex letztendlich sinkt. Es ist z. B. nicht von vornherein ausgeschlossen, dass ein Freihandelsabkommen die Schwächsten benachteiligt und dennoch ihren absoluten Primärgüterindex langfristig erhöht. Oder es könnte durch eine Steigerung des Nutzens für einige Personen zu höherer Kriminalität kommen, die den Gesamtnutzen senkt. Wenn man weiß, welche Gesellschaft aus ethischer Sicht anzustreben ist, so ergibt das nicht ohne Weiteres klare politische Konsequenzen. Über diese ist weiterhin zu diskutieren.

    Um das “ob” zu beantworten, ist ein Blick auf die Ausgangsfrage zu werfen. Es wird die Frage nach der Verteilung von Gütern gestellt, ohne zu erwähnen, woher diese stammen. Vielmehr wird vorausgesetzt, dass diese einfach da sind und zu verteilen sind. Rawls stellt fest, dass das ein höchst artifizielles Problem ist.42 Denn Güter müssen immer in dem Kontext betrachtet werden, dass sie das Produkt sozialer Kooperation sind. Die Güter sind durch die Arbeit der Menschen entstanden. Rawls weist die Idee der allokativen Gerechtigkeit zurück, laut der Verteilung betrachtet werden kann, ohne zu berücksichtigen, wem die Güter überhaupt dadurch, dass er sie produziert hat, zustehen. Er wendet sich somit von der Idee der im weitesten Sinne “ethischen” Güterverteilung ab, die besagt, dass Verteilungen ohne Weiteres normativ bewertet werden können. Stattdessen wendet er sich der aristotelischen Idee zu, dass Verteilungsgerechtigkeit als Ergebnis einer Hintergrundgerechtigkeit zu verstehen ist, die allen Menschen faire Bedingungen in ihrem Handeln ermöglicht.

  • 42 Rawls 1993, S.282; Rawls 2001, S.50f.

  • Fazit

    Um die Verteilung von Gütern zu bewerten, wurde die Idee des Urzustandes betrachtet. Innerhalb des Urzustandes überzeugt letztendlich Harsanyis Gleichwahrscheinlichkeitsannahme. Allerdings bezieht seine Theorie die Abneigung gegen Risiko nicht ein, die im Urzustand durchaus rational erscheint. Wird diese einbezogen, dann nähert sich seine Theorie, verstärkt noch durch einen abnehmenden Grenznutzen, an das Differenzprinzip an; allerdings gibt Harsanyis Theorie wahrscheinlich den Armen im Gegensatz zu Rawls nur relative und keine absolute Priorität. Welche der Theorien vorzuziehen ist, kann nicht im Urzustand entschieden werden, weil der Urzustand keine wirkliche rechtfertigende Autorität entfalten kann. Außerhalb des Urzustandes sprechen mehrere praktische Erwägungen tendenziell für Rawls’ Differenzprinzip. Dieses Ergebnis ist aber schwer anwendbar, weil politische Verteilungsfragen einen wesentlich anderen Charakter haben, als das hier diskutierte Verteilungsproblem, und zudem zusätzliche Überlegungen miteinbeziehen müssen.

    Literatur

    • John Rawls, 1951. Outline of a Decision Procedure for Ethics. The Philosophical Review, 60:2, 177-197

    • John C. Harsanyi, 1953. Cardinal Utility in Welfare Economics and in the Theory of Risk-taking. Journal of Political Economy 61:5, 434-435

    • John C. Harsanyi, 1955. Cardinal Welfare, Individualistic Ethics, and Interpersonal Comparisons of Utility. Journal of Political Economy, 63:4, 309-321

    • John Rawls, 1971. A Theory of Justice. Harvard University Press, Cambridge.

    • John C. Harsanyi, 1973. Can the Maximin Principle Serve as a Basis for Morality? A Critique of John Rawls’s Theory. Center for Research in Management Science, Berkeley, Working Paper CP-351

    • John Rawls, 1974. Some Reasons for the Maximin Criterion. The American Economic Review 64:2, Papers and Proceedings of the Eighty-sixth Annual Meeting of the American Economic Association, 141-146

    • John C. Harsanyi, 1975. Can the Maximin Principle Serve as a Basis for Morality? A Critique of John Rawls’s Theory. [Erstveröffentlichung 1973; Mit neuem ausführlichem Nachwort wiederabgedruckt in:] The American Political Science Review 69:2, 594-606

    • John Rawls, 1993. Political Liberalism. Columbia University Press, New York.

    • John C. Harsanyi, 1996. John Rawls Theory of Justice: Some critical comments. In: Marc Fleurbaey, Maurice Salles, John A. Weymark (Eds.), 2008. Justice, Political Liberalism and Utilitarianism: Themes from Harsanyi and Rawls. Cambridge University Press, New York.

    • John Rawls, 2001. Justice as Fairness: A Restatement. Harvard University Press, Cambridge.

    Citation

    BibTeX citation:
    @report{pomerenke2017,
      author = {David Pomerenke},
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      abstract = {In dieser Arbeit wird die Frage besprochen, wie die
        wichtigen Güter in einem Staat verteilt sein sollten - eine Frage
        der normativen politischen Philosophie. John Harsanyi (1920-2000)
        und John Rawls (1921-2002) haben zu dieser Frage zwei sehr ähnliche
        Theorien entwickelt, kommen aber zu unterschiedlichen Schlüssen.
        Harsanyi plädiert für eine utilitaristische Regel, Rawls dagegen für
        eine Regel, die sich auf diejenigen konzentriert, denen es in der
        Gesellschaft am schlechtesten geht. Die fast fünfzig Jahre
        andauernde Diskussion zwischen den beiden wird hier systematisch
        dargestellt. Zuerst wird die Idee der ethischen Güterverteilung
        erläutert, die bei Rawls Verteilungsgerechtigkeit heißt. Diese Idee
        hängt eng mit dem hypothetischen Urzustand zusammen, in welchem
        Entscheiderinnen ohne Ansehen ihrer eigenen Person über die
        Grundsätze der Gesellschaft entscheiden. Aber auch außerhalb des
        Urzustandes spielen ganz praktische Erwägungen eine Rolle; unter
        anderem stellt sich die Frage, wie die Grundsätze in ihrer Anwendung
        funktionieren. Zuletzt wird auch die Frage gestellt, ob es überhaupt
        sinnvoll ist, normative Urteile über Güterverteilungen zu treffen.}
    }
    
    For attribution, please cite this work as:
    David Pomerenke. 2017. “Nach Welchen Prinzipien Sollte Der Staat Die Verteilung von Gütern Gestalten?” https://davids.garden/rawls.